Paul Lincke und die Drehorgeln Die Berliner Nationalhymne wird 100 Paul Linckes Marsch "Berliner Luft" wurde im Jahr 2004 100 Jahre alt. Der gebürtige Berliner komponierte 1904 die Melodie "Berliner Luft " mit riesigem Erfolg. Nur wenigen Komponisten war es vergönnt, einen solchen Grad an Popularität zu erreichen wie Paul Lincke, dem einzigen Berliner Ehrenbürger seiner Zunft. Linckes Melodien waren vor 100 Jahren im wahrsten Sinne des Wortes "in aller Munde", erklangen in den mondänen Amüsierpalästen ebenso wie auf dem 4. Hinterhof. Lincke war nicht nur ein begnadeter Musiker, sondern auch ein cleverer Geschäftsmann, der dafür sorgte, dass die Berliner Leierkastenmänner seine neuesten Lieder auf ihre Walzen stiften ließen. Und diese Walzen oder Lochbänder fehlen auch heute auf keiner Drehorgel. Linckes Märsche und Lieder, seine Walzer und Gassenhauer sind so beliebt wie anno dazumal. So gern es Lincke auch hörte, wenn seine Melodien an jeder Ecke erklangen - einmal brachten sie ihn selbst fast zur Weißglut. Das war im Sommer 1901, als er seine Operetten-Burleske "Lysistrata" komponierte, und zwar vorwiegend in Köln. Das war nötig, weil dort sein Freund und Texter Heinrich Bolten- Baeckers, als Lektor eines Theaterverlages sowie als Leiter und Regisseur eines Sommertheaters, im Nordosten der Stadt arbeitete. Da dieser Köln während der Spielzeit nicht verlassen konnte, musste sich Lincke, wenn die beiden ein neues Werk planten, im Kölner Domhotel einquartieren. Hier passierte jene drollige Episode, die Lincke oft zum besten gab und die sein Freund, der Verleger Richard Bars, nach Jahren so erzählte: "Die Hoteldirektion wusste, was sie dem berühmten Gast schuldig war. Sie hatte im Souterrain dem Meister ein Zimmer eingerichtet, in dem er ungestört die Texteinfälle Boltens in Linckesche Musik umsetzen konnte. Eines Morgens sollte das Komponisten-Idyll im Kellerzimmer des Hotels eine jähe Unterbrechung erfahren. Als Lincke gerade, am Klavier präludierend, sich in heftigen musikalischen Geburtswehen befand, tönten plötzlich wohlbekannte, aber in diesem Moment unwillkommene Tonfolgen an sein Ohr. Ein Leierkastenmann hatte sich mit seinem Instrument gerade vor dem "historischen" Kellerfenster aufgepflanzt und begann mit der Darbietung des Lincke-Potpourris, das er auf der Walze hatte. Paul, aus allen Schöpferträumen gerissen, klingelte dem Kellner und schickte durch ihn dem Leierkastenmann einen Obolus mit dem Bemerken, er möge nunmehr sein Konzert anderswo fortsetzen. Richtig, die Musik verstummte, so dass sich Paul wieder ans Klavier setzen konnte. Aber schon nach wenigen Augenblicken drang das gleiche Potpourri mit unverminderter Heftigkeit an Pauls Ohren. Lincke klingelte wieder dem Kellner, gab ihm diesmal eine Mark mit der ebenfalls für den Leiermann bestimmten kategorischen Aufforderung, seine Tätigkeit außer Hörweite fortzusetzen. Wieder verstummte der Leierkasten, wieder setzte sich Paul ans Klavier, wieder drangen nach einigen Minuten die vertrauten Leierklänge in das Kellerzimmer. Diesmal war es Lincke zuviel! ! Er rannte selber auf die Straße, legte dem Leiermann noch eine Mark auf seinen Kasten und sagte zu ihm: "Es is ja jut, lieber Freund, dass Sie meine Sachen spielen. Aber hier ha'm Se noch ne Mark, und nu jehn Se weiter!" Da sah der Leiermann dem Meister etwas hilflos in die Augen und sagte: "Es geht nicht, Herr Lincke". Paul, der nunmehr etwas ungemütlich wurde, herrschte ihn an: "Warum jeht's nich?" Der Leierkastenmann wies nach der gegenüberliegenden Straßenecke und sagte: "Da drüben steht ein Mann, der hat mir einen Taler dafür gegeben, dass ich weiterspiele!" Paul blickte hinüber. Da stand eine wohlvertrauten Erscheinung und schüttelte sich vor Lachen. Es war- Heinrich Bolten- Baeckers. Und die Melodie, die gerade in jenem Kellerzimmer zu entstehen im Begriff war, wurde nachmals weltberühmt - das "Glühwürmchen-Idyll" aus "Lysistrata". Ralf-Ingo Bossan / Paul Lincke Gesellschaft e. V. Quelle der Anekdote: Otto Schneidereit - Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette (Henschelverlag Berlin 1974)
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